Museum
für historische Wehrtechnik


Optik 1

Freihand-Winkelmesser 16 nach Prof. Pulfrich

Anfang 1915 begann mit dem Stellungskrieg eine neue Art der Kriegsführung: die Wissenschaft zog ein - z.B. bei der Standortermittlung gegnerischer Geschütze. Bereits im Krieg 1870/71 wurde die Laufzeit des Abschussknalls nach dem Mündungsblitz mit Stoppuhren und damit die Entfernung der Geschütze gemessen. Allerdings wurde diese Methode danach nicht mehr weiter verfolgt.
 
Erst der 1. Weltkrieg brachte eine Fülle neuer Verfahren neben der Vervollkommnung der Schallmess- und Schalldifferenzverfahren. Einer der Erfinder einer Variante der Schallaufklärung war der Ingenieur und Offiziersstellvertreter bei der Fußartillerie, Otto Schwab. Er hatte sich als Batterie- und Beobachtungsoffizier im Reserve-Fußartillerieregiment 3 mit der Aufklärung über Schall beschäftigt.

Otto Schwab beschrieb alle im 1. Weltkrieg für die Artillerieaufklärung entwickelten wissenschaftlichen Methoden in seinem 1928 erschienenen Buch „Ingenieur und Soldat“. In zahlreichen Rezensionen in Zeitschriften wie Heerestechnik, Deutsche Wehr, Artillerie-Rundschau wurde damals u.a. geschrieben: „Ohne Schwabs Erfindungen ist die deutsche Artillerie im Weltkrieg nicht zu denken.“

Ab Seite 17 seiner Abhandlung schrieb Schwab über das von Hauptmann Mickel im Frontabschnitt vor Dixmuiden angewandte Verfahren, feindliche Batterien anzumessen. Mickel verwendete dazu einen Freihand-Winkelmesser von einer Mühle aus, allerdings mit der Absicht, die Beobachtung vom Fesselballon aus zu unternehmen.

Der Freihand-Winkelmesser 16:
Links der Einblick und das erste (halbdurchlässige) Prisma, davor ein Rad mit verschiedenen Abdunkelungsscheiben im oberen und unteren Ausblick.
Oben rechts befindet sich die Ableselupe, darunter eine Rändelschraube mit Lämpchenhalter und der am Übergang zum stabförmigen Batteriebehälter seitlich angebrachte Druckknopf für das Lämpchen.
Rechts schließt sich der Ausblick für das vordere schwenkbare Prisma an. Es wird mittels eines  Schwenkhebelchens sowie eines  Feintriebs auf der linken Seite geschwenkt.

Voraussetzung für die Genauigkeit der Messung waren die Festlegung von Fußpunkt und Abdrift des Ballons sowie ein festes Hilfsziel.
Das Messverfahren mit dem Freihand-Winkelmesser blieb laut Schwab in den Anfängen stecken. Es fand keine weitere Verbreitung.
Anders die Verfahren mit Lichtblitz- und Schallauswertung. Bei Kriegsende 1918 bestanden 160 Licht- und 110 Schallmeßtrupps.

Das Schema der Messung mit dem Freihandwinkelmesser 16 von Zeiß zeigen die Graphik (oben links) und die Übersichtsskizze (unten). Der schräg gemessene Freihandwinkel  zwischen Ziel und Hilfsziel (bei Nacht z.B. ein Scheinwerfer oder ein anderes feindwärts abblendbares Licht) muss je nach Höhe des Ballons noch mittels Tabellen in die Horizontale umgerechnet werden. Gleichzeitig wird der Ballon B vom Auflasspunktpunkt mit Hilfe eines hier aufgestellten Theodoliten T angemessen. Daraus und aus der barometrischen Höhe ergeben sich die projizierte Abdrift durch Wind mit dem Fußpunkt des Ballonkorbes P und der Horizontalwinkel gegenüber der Nullrichtung zwischen Theodolit T und dem Richtpunkt R für den Theodolit.

Der Zeißsche Freihand-Winkelmesser 16 nach Prof. Pulfrich beruht auf zwei hintereinander angeordneten Spiegelprismen, mit deren Hilfe zwei auseinanderliegende Bilder in Deckung gebracht werden können. Dabei wird der Batteriebehälter des Geräts als Handgriff genutzt und das Ziel über das hintere halbdurchlässige Prisma P3 anvisiert. Der durch das Prisma nach oben umgelenkte Blickstrahl kann durch davor einschwenkbare abgetönte Gläser bedarfsweise abgedunkelt werden.
Gleichzeitig wird durch den halbdurchlässigen Spiegel S3 im Prisma das anvisierte Hilfsziel über das zweite Prismensystem P1 und P2 anvisiert. Dieses wird solange geschwenkt, bis dessen Spiegelbild sich mit dem Ziel deckt. Dazu stehen ein Hebel für schnelle Schwenks und ein Schraubrad für feine Richtschritte zur Verfügung.
Mittels der Lupe auf der Oberseite des Geräts kann nun der auf Knopfdruck von einem Lämpchen beleuchtbare Teilkreis T abgelesen werden. Eine Noniuseinteilung ermöglicht eine Messgenauigkeit von einer Winkelminute. Die Genauigkeit wird durch mehrfache Messungen gesteigert.

Mit Hilfe der eingebauten Lupe wird der von unten mit Lämpchen beleuchtete Teilkreis abgelesen.

Die Besonderheit des Freihand-Winkelmessers besteht darin, dass er keine abbildende Optik hat, wie z.B. das Fernrohr, bei dem jede Schwankung auch das Bild beeinflusst.
Hier stehen dagegen die Ziele genauso ruhig wie beim Durchblick durch eine planparallele Fensterscheibe.

Prof. Dr. phil. Dr. ing. h. c. Carl Pulfrich (1858 - 1927) war Physiker und Optiker. Nach Militärdienst und einigen Jahren Lehre und Forschung trat er 1890 eine Tätigkeit bei Carl Zeiss in Jena an, die er bis zu seinem Tode ausübte. Dort war er der erste Leiter der Abteilung für optische Messinstrumente.
Obwohl sich die meisten seiner wissenschaftlichen Arbeiten mit dem räumlichen Sehen (Stereoskopie) beschäftigten, war Carl Pulfrich selbst auf dem linken Auge blind. Bei einem tragischen Unfall, durch das Kentern seines Kanus, ertrank Carl Pulfrich in der Ostsee.
Bekannt wurde er vor allem durch den nach ihm benannten Pulfrich-Effekt. Er hatte herausgefunden, dass die Illusion eines Stereobildes durch Bewegung herbeigeführt werden kann, nämlich immer dann, wenn sich ein Objekt in der Horizontalen bewegt und ein Auge eines Betrachters abgedunkelt wird.
Dessen Bildinformation wird im Gehirn zeitversetzt verarbeitet, so dass eine Tiefenwirkung vorgetäuscht wird - aber nur solange die Bewegung anhält. Der TV-Sender PRO7 hat eine Zeitlang damit gearbeitet.

Verfügbare biographische Angaben zu dem 1889 geborenen Dr. Ing. Otto Schwab sind als eher spärlich zu bezeichnen. Als Verdienst  wird ihm zugerechnet, dass er die Bedeutung der Technik für die künftige Kriegführung schon früh erkannt und propagiert hat. Er forderte u.a., dass Generalstäbler auch eine technische Ausbildung haben müssten.
Seine Aktivitäten auf dem Gebiet der Artillerie hat er im 2. Weltkrieg bei der Waffen-SS fortgesetzt. 1942 war er Kommandeur der SS-Artillerie-Schule 1. Bis 1945 stieg er als Generalmajor noch auf zum Leiter des Technischen Amtes der Waffen-SS, wo aus grundsätzlichen Lösungen der Industrieforschung u. a. ein erster serienreifer Infrarot-Sensor für Nachtseh- und Nachtzielgeräte entstand.
In den 60er Jahren wurde daher ein Laborgebäude für Optik und Akustik bei der Erprobungsstelle der Bundeswehr in Meppen nach ihm benannt. Der spätere „Traditionserlass“ dürfte eine Umbenennung des Gebäudes zur Folge gehabt haben.

Quellen:
- Otto Schwab, Ingenieur und Soldat, 1928
- Bericht der Art.Meßschule Wahn: Der Ballon als hohe Meßstelle, in: Zeitschrift für das gesamte Schieß- und Sprengstoffwesen, Nr. 10 Oktober 1931
- Hans Joachim Froben, Aufklärende Artillerie, Geschichte der Beobachtungsabteilungen und selbständigen Beobachtungsbatterien bis 1945, 1970
- Ein neuer Freihand-Winkelmesser von Dr. C. Pulfrich, in: Zeitschrift für Instrumentenkunde 1919, S. 201 - 212
- Neueinrichtungen an dem Freihand-Winkelmesser Modell 1916, Dr. C. Pulfrich, Druckschrift Mess 333, Zeiss Jena
- Werner Sünkel, Der Freihand-Winkelmesser 16 nach Prof. Pulfrich, in: Museum für historische Wehrtechnik, Mitteilungen für Freunde und Förderer, Ausgabe 59 (April 2007)
- Wikipedia

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